Heimatverein Steinfeld e.V.

Erinnerungen an die Schulzeit
Von Marianne Thoben

An den Einschulungstag im Spätsommer 1941 habe ich nur wenige Erinnerungen, aber umso bessere an die Wochen davor. Meine vier größeren Geschwister hatten mich tüchtig „eingeheizt“ und zum Unwillen meiner Eltern hatte ich Angst vor der Schulzeit.
Den schweinsledernen Tornister auf dem Rücken tragend, betrat ich an der Hand meiner ältesten Schwester Edith das große, graue Gebäude der damaligen Volksschule zu Steinfeld.
Dort, wo jetzt der neue Rathausplatz angelegt wurde – im Volksmund „Roter Platz“ genannt- stand unsere Schule. Diese war umgeben von einem großen Spielplatz, der von einer Reihe von Linden umrahmt war. Diese bildeten gleichzeitig die Grenze zur umlaufenden Kopfsteinplasterstraße.

Im Kriegsjahr 1941 gab es keine Zuckertüte zur Einschulung, keinen neuen Ranzen, keine neuen Schulbücher. Nur eine nagelneue Schiefertafel mit Schwamm und Lappen, die unterwegs stets lustig außen am Tornister hin und her baumelten.

Eine Mitschülerin fiel mir gleich am ersten Tage besonders auf. Sie kam mir sehr große vor, hatte lockiges Haar, trug ein geblümtes Kleid und den ungewöhnlichen Namen Eleonore, der aber sofort in „Lore“ umbenannt wurde. So begann meine Schulfreundschaft mit Lore gleich im ersten Schuljahr.

Unsere erste Lehrerin war Fräulein Moormann. Sie wies uns unsere langen Plätze in der langen Schulbank an. Nachdem wir alle unsere Namen genannt hatten, übten wir das Aufstehen in Reih´ und Glied nach den Pausen, das leise Eintreten in den Klassenraum, das Aufstehen beim Eintritt der Lehrperson und beim Antwort geben, und das ordentliche Aufzeigen ohne „Schnipsen“.

Zu unserem Schulalltag gehörte der tägliche Besuch der Schulmesse. Alle Mädchen trugen damals über ihrem Kleid ein gut gestärkte Schulschürze. Sonntags prangte eine große Schleife im Haar, die von den Jungs verächtlich „Propeller“ genannt wurde.

Im Winter wurde von vielen Kindern mit Vorliebe noch Holzschuhe getragen. Mit Zeitungen oder Strohsohlen ausgelegt, hielten sie die Füße gut warm und man konnte herrlich damit glitschen. Wie verärgert waren wir immer, wenn unsere Glitschbahn bei der Schule, die vom Hauptportal über Deters Hof in Richtung Straße führte, nach der Pause mit Asche abgekürzt wurde. Kinder sehen keine Gefahr.

Natürlich gingen wir Sommers und Winters zu Fuß zur Schule. Ich erinnere mich noch, dass im Winter 1942 so hohe Schneewehen lagen, das unsere Mitschülerin Gertrud, klein von Statur und weitab vom Dorf, nicht zur Schule kommen konnte.

Fräulein Moormann brachte uns zuerst noch das ABC in altdeutscher Schrift bei. Dann kam die Umstellung auf die heutige Schriftform, und wir begannen noch einmal neu mit dem Schreiben.

Im 2. Schuljahr unterrichtete uns Lehrer Apke und es begann eine ereignisreiche Zeit für uns. Lehrer Apke war bekannt für seine große Heimatliebe. So blieb es in fast jeder Erdkundestunde bei Heimatkunde. Jeder kleinste Bach, jeder noch so kleine Tümpel des Nahbezirks, waren uns nach drei ein halb Jahren bei ihm ausreichend bekannt. Die Lager Hase, die Hunte und der Dümmersee, das Wiehengebirge und der Teutoburger Wald waren das Größte.

Seine Liebe zur Natur war so groß, dass er uns zur Frühlingszeit beim Morgengebet öfters unterbrach. Den Finger auf die Lippen legend, uns zum Stillsein aufforderte, und leise fragte: „Welcher Vogel singt denn da draußen so schön?“ Waren wir bei einer von ihm gestellten Aufgabe nicht eifrig bei der Sache, ließ er sein Lieblingszitat über uns ergehen: „Die Rauben sind mir viel zu sauer, sprök die Foss, do hüng die Wost an´n Balken!“
Einmal hatte er uns Mädchen während der Pause beim Fingerpfeifen beobachtet. Demzufolge mussten wir alle sein Sprichwort auswendig lernen. Das heißt: „Mädchen, die pfeifen und Hühnern, die kräh´n, soll man bei Zeiten den Hals umdrehen!“

Auch Lehrer Apkes Lieblingslieder habe ich nicht vergessen. Auf dem Wege zum Sportplatz, den wir für jede Stunde über die Handorfer Straße anmarschieren mussten, ging es durch den Wald vorbei an „Schmucki Bernd“. Dann durfte das Lied: „Die blauen Dragoner“ nicht fehlen. In der Gesangsstunde hieß das Standartlied: „Stiefel muss Sterben, ist noch so jung“!
Es gab damals keine Turnhalle, kein Schwimmbad oder gar Wahlkurse in Sport oder anderen Fächern. Für den Sportwettkampf, der einmal jährlich ausgetragen wurde, wurde der Wettlauf, der Weitsprung und Weitwurf mit Schlagbällen auf dem Sportplatz trainiert. An heißen Sommertagen übte Fräulein Barth mit uns auch wohl mal einen Volkstanz. Auch Waldläufe sind mir noch in guter Erinnerung. Manchmal spielten wir Völkerball und die Jungs Fußball. Da ich beim Weitwurf nur auf ganze sieben Meter brachte, kannte mein Bewunderung keine Grenzen, als Lore den Ball in hohem Bogen über den Sportplatz hinaus in die dahinter liegende Sandgrube warf. Von nun an übten wir oft mit Feldsteinen.

Am 19. März hatte Lehrer Apke Namenstag. Aus diesem Anlass wurden bunte Fähnchen durch das Klassenzimmer gespannt, die große Drehtafeln mit bunter Kreide bemalt und in der Mitte der Tafel prangte das übliche „Vivat, Vivat Josef!“ Am Vortage hatte fast jedes Kind unserer Klasse eine Backzutat mitgebracht. Aus diesen gesammelten Werken entstand bei Bäcker Schmidts ein großer Napfkuchen, den Lehrer Apke strahlend entgegennahm. Das brachte uns jedes mal einen Schultag ohne Hausaufgaben ein aber mit Gesang, Plätzchen essen, Spaziergang und Geschichten lesen ein.

Die langen Schulbänke waren mit eingelassenen Tintenfässern für unseren Federhalter ausgestattet. Unsere Hausaufgaben legten wir wie immer an das Bankende des Mittelganges – zum Nachsehen für Lehrer Apke. Hatte ein Junge seine Aufgaben nicht gemacht, so leerte er kurzerhand den ganzen Inhalt seiner Schultasche auf den Holzfußboden aus, ein Malheur vortäuschend sammelte er so lange wieder ein, bis das Nachsehen vorbei war. Wurde der Sünder trotzdem erwischt, musste er zur Strafe eine Stunde nachsitzen.

Meinungsverschiedenheiten mit Schülern pflegte Lehrer Apke folgendermaßen auszutragen: „Ich sehe es ihm an – der Kerl muss Ducke haben!“ Dann ballte er die Hand zur Faust und klopfte uns den Rücken. Es tat nicht sehr weh. Bei manchen förderte es Staubwolken zu Tage. Hatten sich die Jungs sich in der Schulpause gestritten oder gar geprügelt, mussten sie sich vor der Klasse die Hand reichen und Lehrer Apke nachsprechen: „O, wie schön ist es, wenn Brüder im gleichen Hause in Eintracht beisammen wohnen!“ Der schüchterne Mitschüler Johannes drehte dem Lehrer mal eine lange Nase. Er musste sich uns zugewandt oben auf die Bank stellen und die lange Nasewiederholen. Für ihn war das eine harte Strafe und für uns amüsant.

Ließ man sich während der Unterrichtsstunde beim Butterbrotessen erwischen, begann eine drastische Maßnahme. Dem armen Sünder wurde das große Kohlenblech vorgehalten, und wenn er sich nicht beeilte das Brot auszuspeien, so holte Lehrer Apke den Speisebrei eigenhändig mit dem Finger heraus. Eine Rüge erteilte er einem Schüler oft mit den verachtenden Worten: „Kerl, bist du laffig“!

Schulausflüge gab es zu der Zeit noch nicht, dafür aber schöne Wandertage zur Straotbäke oder zum Mordkuhlenberg. Zur kalten Jahreszeit wurden die Klassenzimmer von einem Riesenofen beheizt, der so manchen Zentner Tor verschlang. So gehörte auch das Torfholen zu der beliebten Beschäftigung einiger Jungs. Sie brauchten mindestens eine Viertelstunde bis sie zurückkamen. Dem Torfstall angegliedert waren die Toiletten. Ich weiß noch, dass es sogenannte „Plumps-Klos“ waren, meistens in einem unbeschreiblichen Zustand. Wir Mädchen ekelten uns so, dass wir dort nicht austreten mochten. Es gab noch ein „Klo“ in Deters Stall. Es war für Leute bestimmt, die hier während der Kirchzeit ihre Pferde und Kutschen unterstellen durften. Meistens wurde uns der Zutritt verwehrt. Der Not gehorchend stellten wir uns dann auf das hölzerne Schulklo über die Öffnung und machten es wie die Landbevölkerung in Griechenland, in der Türkei oder in Frankreich noch heute tut.
In den letzten beiden Kriegsjahren wurden von allen Kindern die Blätter von Brombeeren, Himbeeren und Huflattich gesammelt und in einem leeren Klassenzimmer getrocknet. Als Kräutertee fanden sie Verwendung bei den verwundeten Soldaten. Der Schulunterricht wurde auch oft durch Fliegeralarm unterbrochen. Dann durften wir nach Hause gehen. So geschah es, dass unser Klassenkamerad Walter unter den Trümmern seines Elternhauses starb, weil in der Nähe ein mit Bomben schwer beladenes Feindflugzeug abstürzte. Wir schauten anderntags ganz erschüttert auf seinen verwaisten Platz in der Schulbank.

Zu dieser Zeit erhielt unsere Klasse fast wöchentlich Zuwachs durch Flüchtlingskinder. Ihr scharfer Dialekt brachte Lehrer Apke immer aus der Fassung. Die Anmeldung von Reinhard Juppe, der mit seiner Mutter bei Westermann gen. „Pütt Berta“ Quartier gefunden hatte, ging wie folgt: Apke fragt: „Wie heißt Du?“ Antwort: „Räinhard Juppei!“ Darauf der Lehrer: „Wie bitte, etwas deutlicher reden wenn es geht!“ Laute Entgegnung: „Räinhard Juppei“! Nun sagte Apke: „Rääinhard kann ja wohl nur Reinhard heißen und den Nachnamen buchstabierst Du bitte. Das tat der Reinhard auch so: „Jott-Ou-Pei-Pei-Ei!“ Wir Kinder lachten, doch Lehrer Apke erkannte nicht die Komik der Situation und tobte: „Da seht ihr mal wieder, wohin diese Deutschverderberei führt. Reinhard – bringe morgen bitte einen Zettel mit Namen und Geburtsdatum mit!“

1945 nach Kriegsende bekamen wir neue Lesebücher und das Morgengebet begann wieder mit einem Kreuzzeichen. Kein „Deutscher Gruß“ kein „Schütze Gott mit Deiner Hand“ mehr. Es kam uns Kinder schon unheimlich vor. Dann begann die Zeit der Schulspeisung für untergewichtige Kinder. Da ich schon immer zu den Übergewichtigen gehörte, hätte ich nie etwas davon abbekommen, wenn uns nicht der Koch, gelegentlich als Küchenhilfen gebraucht hätte. Zur Belohnung gab es jedes mal Brötchen mit Aprikosenmarmelade und eine Milchspeise.

Nun eine Rückblende: Im dritten Schuljahr begannen die regelmäßigen Handarbeitsstunden mit Frl. Barth. Sie brachte uns viele Handfertigkeiten bei. Bedingt durch die Kriegs- und Nachkriegsjahren haperte es immer etwas an Material. Weil meine Eltern keine Bauern waren, fehlte uns jede Möglichkeit, Wollgarn oder Leinen für die Handarbeit zu erwerben, sprich: zu erhamstern! So musste ich oft Socken stopfen, wenn andere Kinder aus selbstgesponnenem Schafwollgarn warme Socken oder Handschuhe strickten. Wir lernten auch das Flicken von Handtüchern, Bettlaken und Männerhosen. Das habe ich zu Hause dann oft gemacht. Im sechsten Schuljahr hatten wir statt Handarbeit Gesangsstunden bei Frl. Barth. Ob Juni 1948, nach der Währungsreform, konnten auch wir das notwendige Material zur Handarbeit wieder kaufen und alle Mädchen wetteiferten miteinander.

Ab Frühjahr 1946 wehte in unserer Klasse ein anderer Wind. Lehrer Apke, längst schon im Rentenalter, trat aus dem Schuldienst aus und wir bekamen Lehrer Ruhnke, einen Junglehrer von 30 Jahren. Alles wurde bei ihm lockerer und leichter gehandhabt. Trotzdem besaß er eine gewisse Strenge und Autorität. Er prägte uns in kurzer Zeit eine Menge Wissen ein. Vor allem das Bruchrechnen, denn wir lagen im Rückstand. Das Versetzen in den Bänken nach Diktatzensuren wurde abgeschafft. Leises unterhalten während des Unterrichts war erlaubt, aber Lore und ich machten allzu lauten und regen Gebrauch davon. Wir bekamen deshalb in der ersten Bank unsere „Ehrenplätze“. Da Lore öfters lauthals lachte, wurde sie nach kurzer Zeit von Lehrer Ruhnke „die lachende Taube“ genannt. Nie vergesse ich den Tag, wo er mich während des Unterrichts fragte, ob wir einen Trauerfall in der Familie hätten, wegen der Trauerränder unter meinen Fingernägeln. Wenn es um die Rechtschreibung ging, besonders um das Dehnungs-H, hatte er immer einen Spruch parat: „Wer nämlich mit „h“ schreibt ist dämlich.“ Wollte uns der Aufsatz über das Pferd nicht so gelingen, sagte er mit leisem Spott in der Stimme: „Ist doch so einfach: Der Pferd, der hat vier Beine, an jeder Ecke eines und hinten einen Schwanz, sonst ist der Pferd nicht ganz!“ Als wir an seinem Namenstag die übliche Schau von Lehrer Apke abwickelten und nun einen freien Tag erwarteten, wurden wir enttäuscht. Eine Stunde nach Wahl und dann er übliche Unterricht. Aber er konnte, wenn wir ihm ein Gedicht aufsagten, seine Rührung kaum verbergen und unsere Herzen flogen ihm zu.

Zur Naturkundestunde gingen wir im Frühjahr und Sommer oft in die naheliegenden Wiesen, oder in Saols Heide und studierten das Objekt an ort und Stelle. In dieser Zeit fällt auch unser erster Ausflug zum Dümmer See und zwar mit einem LKW von Bergmann/Ording. Der LKW wurde mit Birkengrün geschmückt und obwohl einige Bänke vorhanden waren, mussten doch viele Kinder stehen. Ich glaube wir haben den ganzen Weg hin und her gesungen. Die mitgebrachten Butterbrote schmeckten uns genau so gut wie heute den Kindern der Schnellimbiss.

Sportbegeistert war Lehrer Ruhnke immer schon. Ewald, der Bruder von Lore, war damals ein guter Fußballspieler. Einmal, als er sich nach Ruhnkes Meinung nicht bewährt hatte, fand Lore unter ihrem Diktat nicht nur die Zensur, sondern als zarte Anspielung zum Weitersagen, eine fein säuberlich hingemalte Flasche, auf deren Etikett war der Name EWALD zu lesen.
Die Kinder der Bahnhofstraße werden sich noch erinnern, dass wir im Winter bei Schnee und Eis in Wilberdings Wiese immer ein abschüssige Rodelbahn hatten. Als Lehrer Ruhnke uns eine Beschwerde der Bäuerin zu übermitteln hatte, fügte er hinzu: „Aber wo sollte ihr denn sonst auch hin?“ Da Wilberdings Wiese kein Begriff für alle Kinder war, erklärte Lehrer Ruhnke den Tatort folgendermaßen: „Das ist die Wiese bei Vieckebohn´ Julia“, was ihm seinerzeit eine Beschwerde von Julias Vater einbrachte.

Weil Mädchen damals nicht einmal im Winter in langen Hosen zur Schule gehen durften, ohne einen Rock darüber zu tragen, erregte es schon Aufsehen, als Lehrer Ruhnke Sommertags in kurzen Lederhosen zum Schulunterricht kam – Reformen überall.

Nachmittags hatten alle Kinder freiwilligen Einsatz zum Kartoffelkäfersuchen. Zunächst gab es noch eine Prämie von 20,- DM auf jeden gefundenen Kartoffelkäfer. Als der Befall zunahm, wurde die Prämier auf 5,- DM verringert, um schließlich ganz wegzufallen. Als der Bauer Ruwe aus Schemde unseren Einsatz wollte, schlug unser Lehrer für jedes Kind ein Schinkenbrot und ein Glas Buttermilch dabei heraus. Viele Mädchen und Jungen, die zu weiterführenden Schulen nach Damme, Lohne oder Vechta überwechselten, teilten die Zeit bei Lehrer Ruhnke nicht ganz mit uns.

Mein Vater war im Meldeamt des Gemeindebüros tätig. Als Lehrer Ruhnke dort zu tun hatte ergab es sich so nebenbei, dass er meinem Vater von meiner ständigen Rederei während des Unterrichts erzählte. Es setzte eine gehörige Standpauke zu Hause. Am anderen Vormittag in der Schule benahm ich mich gut, und sprach keine überflüssige Silbe und arbeitete aufmerksam mit. Ich fühlte mich zu Unrecht getadelt und war tieftraurig. In der vierten Stunde wurde ich gefragt, ob ich krank sei. Kurz vor Schulschluss rief mich der Lehrer nach vorne und sagte vor der ganzen Klasse: „Ja, ja ich habe mich gestern bei ihrem Papp´n über die Hilgefort ausgelassen. Aber morgen soll sie mich nicht mehr angucken wie ein trauriger Hund, und so sein wie immer“! Voller Triumph habe ich dies zu Hause beim Mittagessen erzählt, und kopfschütteln sagte mein Vater: „Nee, nee – die Georg die schall mi man maol wedderkaomen.“

Im Jahre 1947 hielt Lehrer Kohnen Einzug in unsere Klasse. Von nun an wurden wir in der Gesangsstunde von ihm mit Geige und Flöte begleitet. Er spielte beide Instrumente vorzüglich. Konnte im Deutschunterricht jemand mit dem „mir“ und „mich“ nicht richtig umgehen, pflegte er in unserer plattdeutschen Sprache immer wieder zu sagen: „Hauptsache ihr verwechselt nicht „mein“ und „dein“!
War einem Kinde wider Willen mal ein leichtes Lüftchen entfolgen, fragte er naserümpfend“ „Wem ist denn das Ventil geplatzt?“

Einmal ging es um die Frage, wo bei einem kranken Pferd die Temperatur zu messen wäre. Zuerst herrschte absolute Stille. Dann zeigten einige Jungs sichtbar zaghaft und verlegen auf und Einer stotterte „im .....“. „Ja“, ergänzte Lehrer Kohnen, immer das „R“ scharf rollend „im After“, sehr richtig, so heißt das – und nicht „Arschloch“!“ Sein deftiger Humor ist mir im Gedächtnis geblieben. Nach Erdkunde- oder Sachkundeunterricht gab er uns oft Stichworte, die wir ergänzen mussten. So schrieb beispielsweise ein Mitschüler zu unserer aller Heiterkeit zum Begriff „Opium“ - „Opium ist eine kleine Stadt im Wilden Westen“.

Natürlich hatten wir auch gelegentlich in den ersten zwei Schuljahren Stunden bei Frl. Menke, Lehrer Kallage, Frl. Völkerding oder Lehrer Klostermann, den die Jungs respektlos „Hugo“ nannten. Meine Freundin und ich sollten bei Klostermann, der in Vertretung die Gesangsstunde gab, zusammen für Zeugnisnoten das Lied „Es dunkelt schon in der Heide“ singen. Normalerweise konnten wir das sehr gut, aber weil die Albernheit der Jahre uns gerade erfasst hatte und wir immer in schallendes Gelächter ausbrachen, sind wir nicht über das Wort Heide hinausgekommen. Klostermann schalt uns alberne Gänse, aber die Zeugnisnote hat nicht darunter gelitten.

Ab Herbst 1948 hatten die Jungs bei Lehrer Kallage und wir bei Frl. Mählmann Unterricht. Bei ihr denke ich in erster Linie an die große Bescheidenheit und Frömmigkeit, die ihr ganzes Leben beherrschte. Sie legte uns in besonderer Weise die Marien Verehrung nahe und war selbst ein freies Mitglied des Schönstätter Ordens. Ihre Bescheidenheit erkannte man auch daran, dass sie ihren weinroten, selbstgestrickten Sommerpullover im Winter mit langen Ärmeln ausstattete und weiter trug. Der Lebenskundeunterricht, selbst die vielen Gedichte, die wir lernten, waren sehr christlich durchtränkt. Eigentlich wären wir im April 1949 entlassen worden, mussten aber wegen Einführung des 9. Schuljahres noch ein Jahr die Schulbank drücken. Ich selber wurde für ein halbes Jahr vom Schuldienst befreit, weil meine Mutter stark schwerhörig war, und ich deshalb im elterlichen Lebensmittelgeschäft gebraucht wurde. Wenn wir alle im Stillen gehofft hatten, die Suspens würde auf das ganze Jahr ausgedehnt, so sahen wir uns getäuscht. Nun musste ich, der Schule entwöhnt, in den sauren Apfel beißen und für ein halbes Jahr in meine alte Klasse und zu Frl. Mählmann zurückkehren. Meine Freundin Lore wurde, da ihre Mithilfe in der häuslichen Landwirtschaft dringend vonnöten war, für das ganze Jahr vom Schulbesuch befreit.

Ein Thema habe ich in meiner Erzählung bisher übergangen und zwar den Religionsunterricht. Einmal wöchentlich fanden wir uns dazu mit den gleichaltrigen Kindern aller Bauerschaften nachmittags in der Kaplanei ein. Kaplan Frilling ist uns allen noch gut bekannt, besonders den Knaben, die Messdiener waren. Im April 1944 kamen wir zur 1. hl. Kommunion. Schwester Theonilla vom Orden „Unserer lieben Frau“ übernahm die Vorbereitungszeit. Das sechste Gebot, dass es heute in dieser Form nicht mehr gibt, behandelte sie so intensiv, dass ich in ständiger Furcht vor unkeuschen Blicken am liebsten nicht mehr in die Badewanne gewollt hätte, weil wir Kinder immer zu zweit badeten. Ihre Gewissenserforschungen, sowie ihre unnachahmliche Art, Atem zu holen und den Mund zu schließen werden allen noch in guter Erinnerung sein, die sie gut kannten.

Frl. Balster, die uns zeitweilig auch Religionsunterricht erteilte, sorgte außerdem für Ordnung in der Schulmesse. Einige Kinder, die gar zu auffällig wurden, haben eine Zurechtweisung erhalten. Sonntags sorgte der Kirchenschweizer Anton Fortmann in seiner robusten Art für Ordnung. Einmal schickte er sogar seine eigene Frau von der Kommunionbank zurück. Nach seiner Meinung hatte sie sich vorgedrängelt. Wir fürchteten ihn alle , wenn er mit seinem roten Gewande herannahte. Fronleichnam und Palmsonntag waren seine großen Tage. Aber es entging ihm doch, als unser Nachbarkind Heinz den langen Palmstock seines Vordermannes, der sich unter der Last eines dicken Apfels gebogen hatte und ihm vor der Nase umhertanzte, festhielt, einmal herzhaft in den Apfel biss und ihn wieder flitzen ließ. Von Andacht war an solchen Tagen keine Rede mehr.

Als ich einmal zur Kommunion gehen wollte, fiel mir erst an der Kommunionbank ein, dass ich ein Glas Wasser getrunken hatte. Spontan stand ich auf und ging in meine Bank zurück. Um keinen Preis der Welt durfte man früher mit etwas im Magen kommunizieren. Mein Bruder Karlheinz, der das alles beobachtet hatte, hänselte mich deswegen zuhause.

An dieser Stelle fällt mir die Aschermittwochsstory von früher in Steinfeld wieder ein. Dort wurde das Aschekreuz zwischen den beiden Frühmessen ausgeteilt. So eilte gewissenhaft Herbert, der Lehrling von Eisen-Krapp vor Arbeitsbeginn schnurstracks durch die Kirche nach vorne, um sich das Aschekreuz zu holen. In seiner eile sah er nicht, dass Pastor Uptmoor erst die hl. Kommunion der ersten Messe austeilte. Seinen Irrtum erkannte er fast zu spät. Pastor Uptmoor reichte ihm schon die Hostie zu, da soll er tapfer gesagt haben: „Nein danke, ich möchte Asche“!

Wenn ich unseren damaligen Aufklärungsunterricht aus der heutigen Warte betrachte, kommt mir die gewaltige Veränderung der religiösen Anschauungen erst recht zum Bewusstsein. Im Geiste sehe ich unseren Pastor Uptmoor noch vor uns stehen. Buchstäblich händeringend, die Fingerspitzen aufeinander, die Handflächen auf und zu zumachend erzählte er uns Heranwachsende, was heutzutage jedes achtjährige Kind bereits weiß. Danach waren wir genau so schlau wie vorher. Da brachte die private Aufklärung von unserer Mitschülerin Brunhild auf der Hausbank bei Bene am Rande des Schulplatzes wesentlich mehr. Dabei hatten wir auch Pech, denn Benen Oma hatte zugehört und sich anschließend über unsere unkeuschen Gedanken beim Lehrer beschwert.

Ja, so war das früher. Damals ein bisschen mehr und heute ein bisschen weniger, wäre gut gewesen!

Im Wesentlichen lief der Religionsunterricht mit dem in der Schule parallel. Während des Krieges war die Seelsorge in den Schulen kein Lehrfach, wurde aber von allen Lehrern erteilt. Im ersten Nachkriegswinter konnten wir bei unseren Kirchgängen die sogenannten Autos mit Hafermotor bewundern.

Im Jahre 1949 bekam unsere Pfarrkirche drei neue Glocken. Ich sollte zur Glockenweihe ein Gedicht aufsagen. Die Glocken wurden dem hl. Johannes, dem Vorläufer Jesu, dem Erzengel Michael und der hl. Maria Mutter Gottes geweiht. Von meiner Mutter erhielt ich extra für diesen Tag ein neues Kleid. Aber mein Selbstbewusstsein wurde getrübt durch die Tatsache, dass mein Wintermantel, den ich anziehen musste, über eine Handbreit zu kurz war. Bei der Kirche angekommen, wurde ich aufgefordert, zu den Glocken auf das Podest zu steigen. Schock Nr. 2. Als ich die riesige Volksmenge sah, bekam ich großes Herzklopfen. Den Rest gab mir noch, dass der derzeitige Freund meiner Schwester Edith die Kolpingfahne trug und mich immer so frech angrinste. So wurde mein Gedichtvortrag die reinste Katastrophe. Den Rest dieses Sonntags hatte ich das heulende Elend. Als Frl. Mählmann mich montags in der Schule bat, ihr doch mal eine Strophe aufzusagen konnte ich dies lückenlos. Oh dieses Lampenfieber! Trotzdem freue ich mich immer wieder, wenn bei optimaler Windrichtung die Steinfelder Glocken bei mir in Kroge zu hören sind.

Im Winter 47/48 führten wir unter Leitung von Frl. Barth in Ordings Saal, über dem alten Kolpinghaus, ein Marienstück auf, wobei ich die Morgenröte versinnbildlichen durften. Der Monolog an die Sterne, worin ich die Erscheinung der Gottesmutter ankündigte, machte mir keine Schwierigkeiten. Wohl aber der schwebend tänzelnde Gang und das gleichzeitig Rosenstreuen. Nach einigen Aufführungen wurde ich krank und meine Mitschülerin Inge übernahm die Rolle. Maria O., die Gottesmutter darstellte, erzählte mir später von einem großen Heiterkeitserfolg, den sie hatte. Weil sie als lebendig gewordene Statue aus dem Altar heraustrat, vollzog sie sprichwörtlich einen Fehltritt auf die Kante des Altars, dieser zusammenbrach und sie unter ihr begrub.

Im Frühjahr 1950 wurden wir entgültig staatlich und kirchlich aus der Schule entlassen. Frl. Mählmann lud uns zu einer kleinen Feier zu sich nach Hause ein. Als ich unter dem Klang der neuen Glocken mit meinen Eltern der Kirche zustrebte, mit Dauerwellen und einem weißen Kranz im Haar stand Frisör Böckmann (Pöter Gerd) vor dem Hause. Er klatschte in die Hände und rief: „Och, Marianne, Du biss dat – ick dachde jüst, daor kömp dei Brut“!


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