Schulreport
von Franz Heinrich Bunge
Wovor manchem Kind graust, wogegen heute viele Eltern wettern, worüber PISA ein vernichtendes Urteil gefällt hat – dorthin wollte ich schon 1950, ein Jahr vor meinem offiziellen Eintritt... in die Schule. Der Auslöser für meine Sehnsucht war eine ordinäre Blechdose mit einem Drahtbügel. Unser Nachbarjunge Josef H. zeigte sie uns Neidern, wenn er von der Schule zurückkam. Darin trug er einen Bodensatz von Kakao nach Hause, zusammen mit einigen Brandt-Zwiebäcken, der damaligen Schulspeisung. Der geneigte Leser schaue einmal auf die neueste Verpackung dieser Firma mit dem Slogan auf der Rückseite: „In guten Zeiten und in schlechten Zeiten....“. O Tempora, o mores!
Wie groß war meine Enttäuschung 1951 beim Schulantritt – die
Ernährungslage hatte sich leider gebessert, die Schulspeisung war wohl
überflüssig geworden. Blechdose ade! Der erste Schultag begann mit einer Messe
in der Pfarrkirche. Der Nürnberger Trichter schien um den Beistand des Heiligen
Geistes ergänzt werden zu müssen – wie heute. Anschließend eilten wir mit
unseren Müttern in die damals zentral gelegene Bildungsanstalt auf dem heutigen
Rathausplatz, dem vormaligen Ur-Kirchen- und Friedhofsgelände.
Klassenlehrer G.R. ordnete das Durcheinander, wies uns in die langen Bänke und
schickte dann die Mamas hinaus: „Die Mütter können jetzt gehen“. Die letzte, die
den Klassenraum verließ, war M.v.S. Sie winkte Ihrem Sohn G. beim Zuziehen der
Tür zu, worauf dieser verzweifelt rief: „Ick will nao us Mammen hen!“ Schwupp
rannte er weg und war nicht mehr gesehen. Auch in den nächsten Tagen desertierte
G. und suchte Zuflucht und Trost bei der Verwandtschaft, dem Schuhhaus F. Von
dort kehrte er dann irgendwann im Laufe des Vormittags mit einem immensen
Butterbrot zu uns zurück: G. litt offenbar unter Kommunikationsschwierigkeiten,
er kannte keinen seiner Bildungsgenossen. Nach einem späteren Umzug aus der
Bauerschaft Schemde nach Steinfeld-Zentralort hat sich dies Manko erledigt:
stolz zeigte er mir vor drei Jahren ein Autogramm des inzwischen verstorbenen
Königs Hussein von Jordanien, mit dem er als Amateurfunker über KW Kontakt
aufgenommen hatte. -- Damit müsste für den Leser auch klar sein, um welchen
Zeitgenossen es sich hier handelt.
Übrigens: Einige Jungen mussten das 1. Schuljahr wiederholen, weil sie als Plattdeutsche einfach nichts verstanden hatten. Ihre Begegnung mit der hochdeutschen Sprache beschränkte sich damals auf die Predigt im sonntäglichen Gottesdienst. „Oggis“ Originalkommentar zum Jahre 1951 mir gegenüber: „Was damals für einige das Hochdeutsche war, das ist heute für uns die arabische Sprache.
Das 2. Schuljahr brachte Veränderungen en masse: statt des
drahtigen G.R. bekamen wir es mit Fräulein E.V. zu tun, einer wahrhaft
imposanten Erscheinung. Der mit ihren Wurstfingern ausgeführte Wangenkniff war
äußerst schmerzhaft. Aber dafür drohte keine Gefahr mehr, wenn sie sich
letztendlich auf das höher stehende Podest zurückgezogen hatte. In ihrem
Unterricht erlebte ich erstmals die heute als modern verschrieene „pädagogische
Binnendifferenzierung“: diejenigen, die sie vom Pult aus überwachen konnte,
mussten arbeiten, die Scholastiker der letzten Reihe entzogen sich ihrer
Kontrolle. Da jeder, der die Schiefertafel während der Stunde voll geschrieben
hatte, anschließend malen durfte, darf man einmal raten, wer je nach Saison mehr
Osterhausen, Nikoläuse und Krippenensembles entworfen hat. Na, wer erinnert
sich?
Wichtiger als die Anhäufung von Wissen war für E.V. die Ausübung unseres
Glaubens. Während der Schulmesse stets in der letzten Bank kniend / sitzend,
kontrollierte sie täglich die Anwesenheit ihrer Schützlinge. Auf ihrer bohrenden
Frage n nach der Teilnahme am Gottesdienst vor 8 Uhr retteten wir uns mit den
schwer zu entkräftenden Argumenten: „Wir waren in der Frühmesse“. Oder „Wir
haben im Krankenhaus bei Pater N.N. an der Messe teilgenommen“. Einblick in ihr
Ernährung und ihre Freizeitbeschäftigung erhielten wir vor Ort. Dafür einige
Beispiele: a) „Maria, gehe bitte in meine Wohnung und überprüfe, ob ich den Herd
ausgeschaltet habe!“ oder
b) unser Klassenzimmer lag Richtung Tankstelle C. Berding, wo Franz Bergmann
(„Melk Franz“), sein Ankommen durch Schwingen einer Glocke kund tat. Auftrag an
M.M., heute M.B.: „Maria, hier hast Du 10 Pf, hol mir bitte eine Tasse
Buttermilch!“ Maria nahm Geld und Tasse. Tante Emma setzte gestärkt ihre
Untätigkeit fort. Und
c) In unregelmäßigen Abständen harrte unter der Fensterseite ihr Damenfahrrad
einer kosmetischen Behandlung: „N.N. darf nun mein Rad putze, heute will ich
meinen Neffen W. in Holdorf besuchen.“ Dieser von seinen Tanten V. erblich gut
bedachte W. ist heute Oberstudienrat an dem Gymnasium Damme.
Höhepunkt unseres Lernens im 2. Schuljahr war eine Reinigungsaktion, die
wirklich Spuren hinterließ. Bewaffnet mit einem Eimer, einer Wurzelbürste und
einem Scheuermittel mussten wird Tische und Bänke schrubben. Sie waren durch den
langjährigen Gebrauch einfach schmierig geworden. Anfangs versuchte E.V. in den
Reinigungsprozess einzugreifen. F.B., schon erblich humoristisch vorbelastet und
später folgerichtig 1. Präsident des Karnevalsvereins Steinfeld, funktionierte
die Säuberung in eine Happening um: Franz füllte seinen Eimer auf dem Flur aus
den Hähnen der erst kurz vorher installierten Wasserstellen und schüttete ihn
wiederholt einfach in den Klassenraum. Tante Emma flüchtete vor der
Überschwemmung auf ihr Podest und wir konnten unserem Reinigungswahn freien Lauf
lassen. Notabene: Diese von uns geschrubbten Objekte konnte man beim Umzug 1958
noch klar als „Emma-Mobilien“ identifizieren.
Das 3. Schuljahr bescherte uns eine ruhige Zeit bei J.K. Im 4.
Bildungsjahr gelangten wir zurück zu G.R. Unter allen Ereignissen dieser Zeit
sind mir zwei in besonderer Erinnerung geblieben:
a) Damals beschränkte sich die SV (heute Schülermitverwaltung) auf die
regelmäßige Befeuerung des grandiosen Kanonenofens. B.V., der aus welchen
Gründen auch immer als Spitznamen den des 1. Präsidenten der V.A.R. Ägypten
trug, war dafür zuständig. Zusammen mit einem weiteren Schüler schleppte er bei
Bedarf den Torfbehälter zum Nachfüllen in das Sondergebäude, in dem sich auch
die Plumpsklos befanden. Meistens kehrten sie mullbedeckt zurück, weil sie wie
weiland Tarzan sich von dem Mittelbalken per Kette in die Torfmasse gestürzt
hatten. Als B. aber eines Tages absichtlich oder durch die Stofffülle des
Unterrichts traumatisiert den Bollerofen kurz vor Unterrichtsschluss noch
kräftig gestopft hatte und sich dann lauthals über die „Affenhitze“ beschwerte,
ließ „Oggi“ ihn unter Androhung von Schlägen jedes noch nicht angesengte
Torfstück wieder herauspulen.
b) Zu der Zeit gipfelte die Marienverehrung während der Lourdes-Stafette in eine
Manie. Tagelang war die Madonna in der Kirche zur allgemeinen Verehrung
ausgestellt. Das nachmittägliche Ave, Ave, Ave Maria“, aus Kinderkehlen geradezu
geschrieen., kann ich heute noch trällern. Dieser Lobgesang wurde dem ältesten
Sohn von Oggi zum Verhängnis. Empört schwärzte ein Mitschüler ihn morgens an:
„Euer G.-M. singt immer „Affe, Affe, Affe Maria“! Welch ein Skandal! Die Strafe
durch den eigenen Vater folgte auf dem Fuße: G.-M. aus der anderen Klasse
geholt, vor unserer versammelten Mannschaft die Jacke hoch, erwartungsgemäß den
Rücken gebogen, und schon federte das Holz auf der Hose. Jammernd verdrückte
sich der Sohn aus dem Machtbereich des Vaters. In den Augen einiger von uns
Bengeln leuchtete Genugtuung auf, sicher war der erfundenen (?) äffische
Lobgesang ein Racheakt für irgendeinen Knüppeltanz.
Vielleicht können andere Mitschüler meine Erinnerungen noch
ergänzen. Schön wär´s!